Heimatvertriebene in Lenting nach 1945

 Das Vordringen der Roten Armee 1944 zwang die deutsche Bevölkerung in einigen deutschen Ostgebieten schon 1944 zur Massenflucht Richtung Westen. Nach Kriegsende 1945 beschlossen die Siegermächte die Zwangsaussiedlung aller Deutschen aus der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn. Insgesamt nahm Deutschland 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene auf, Bayern etwa 1,9 Millionen.  

In Lenting angekommen

Nach Recherchen von Franz Friedl und Michaela Gießer im Gemeindearchiv Lenting kamen zwischen 1945 und 1960 insgesamt 519 Heimatvertriebene nach Lenting. Als deren Herkunftsgebiete haben sie folgende herausgefunden:

  • Über die Hälfte, nämlich 271 Vertriebene kamen aus dem Sudetenland
  • Aus Schlesien und Galizien stammen 99 Personen
  • 63 „Ungarndeutsche“ hatten ihre Heimat in Ungarn, Rumänien, Jugoslawien, dem sog. Banat
  • Aus Pommern und Ostpreußen hat es wegen der räumlichen Distanz nur 21 Flüchtlinge nach Lenting verschlagen
  • Weitere 65 stammen aus deutschen Siedlungsgebieten in Russland und Osteuropa.

Die Einwohnerzahl Lentings verdoppelte sich laut Volkszählung von 1945 bis 1960 von 825 auf 1688 Einwohner. Die genannten 519 Heimatvertriebenen stellten 1960 also einen Anteil von mehr als 30 % der Lentinger Bevölkerung.

Ein Vergleich mit der Nachbargemeinde Kösching zeigt ähnliche Zahlen. Nach einer Untersuchung von Michael Geisenfelder (In: Sammelblatt des Historischen Vereins Ingolstadt 2002) waren 1950 von den 3700 Einwohnern Köschings 1014 Heimatvertriebene.

 Wohnraumversorgung und Ansiedlung

Wegen der Kriegszerstörungen in den bayerischen Städten wurden die Vertriebenen meist auf die Dörfer in Bayern verteilt, und zwar von den Flüchtlingsbeauftragten der amerikanischen Besatzungsmacht. Der damalige Lentinger Bürgermeister Josef Seitz hatte es schwer, für sie den benötigten Wohnraum zu finden. Manche Familien in Lenting nahmen die Heimatlosen freiwillig auf, doch letztlich musste er auf Anweisung der Militärbehörden auch Zimmer beschlagnahmen und Einweisungen in private Höfe oder Häuser anordnen.  Einige Flüchtlingsfamilien mussten zunächst auch in Baracken untergebracht werden.

Nach mehreren Jahren in Notunterkünften bauten sich viele Neubürger in den 1950er Jahren ein eigenes Haus, meistens in den damals neu entstandenen Lentinger Baugebieten Ziegeleiviertel, Dichterviertel oder Sudetenstraße.

 Die Integration der Vertriebenen in Lenting

Ein frühes Zeichen der gesellschaftlichen Integration war es, dass bei der Kommunalwahl 1948 die Kandidaten des BHE (Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten) drei Sitze von insgesamt 10 im Gemeinderat Lenting erreichten: Max Klaus, Otto Schneider und Erwin Schenk übernahmen damit Verantwortung für ihren neuen Heimatort.

Daneben gibt es auch viele Beispiele der wirtschaftlichen Integration und Aufbauleistung von Heimatvertriebenen in Lenting:  Der Sudetendeutsche Josef Jung zum Beispiel eröffnete im Goethering eine Strickerei. Der Ungarndeutsche Josef Bacso gründete ein Baugeschäft und unterstützte damit den Bauboom ab den 50er Jahren, seine Ehefrau hatte einen Krämerladen am Kapellenweg. Der Friseur Reinhold Lenk übernahm das Friseurgeschäft an der Ingolstädter Straße und betrieb mit seiner Ehefrau einen Damen- und Herrensalon. Weitere Beispiele wie die Gärtnerei Brauner oder das Fotogeschäft König werden weiter unten im Abschnitt Vorträge beschrieben.

Der Ortschronist Hans Greis urteilte in seinem Buch „Die Zeit vor Gestern“ (S.133) über die Integration der Heimatvertriebenen in Lenting:    „Man rückte zusammen – langsam auch im Kopf…   Der Zustrom der Vertriebenen löste viele und nicht nur kleine Bauerndörfer aus der Starrheit jahrhundertelanger Einkapselung…“

 

Die Lentinger Gedenkstätten der Vertriebenen

Foto: W. Kleeberg

1960 wurde von der Sudetendeutschen Landsmannschaft das hier abgebildete Ehrenmal „DEN TOTEN DER HEIMAT“ am Kapellenberg Lenting erbaut. Es sollte dem „Gedenken der in der Heimat zurückgebliebenen toten Angehörigen aller Heimatvertriebenen“ dienen, wie es in der Einladung zur Einweihung 1960 hieß (Unterlagen von Franz Friedl).

Im Gemeindefriedhof wurde 1998 die neue Aussegnungshalle errichtet. Auf Antrag der Sudetendeutschen Landsmannschaft fügte man dabei die vier Wappen und die Inschrift des inzwischen aufgelassenen Ehrenmals in die Südwand der Aussegnungshalle unter dem großen Fensterkreuz ein. Damit wurde eine neue Gedenkstätte für die Toten der Heimatvertriebenen geschaffen.

Foto: W. Baumgärtner

Auf Antrag des Geschichtskreises Lenting hat die Gemeinde 2023 eine erklärende Steintafel anbringen lassen, damit die Friedhofsbesucher die Hintergründe dieser Gedenkwand besser verstehen und die  Wappen leichter zuordnen können (siehe Foto).

Wie darauf zu lesen ist, erinnern die vier angebrachten Wappen an die ehemaligen Heimatgebiete der Vertriebenen in Sudetenland – Schlesien – Ungarn – Pommern.

 

Vorträge über Heimatvertriebene in Lenting

Bei seinen Stammtischen von Januar bis September 2024 veranstaltete der Geschichtskreis Lenting eine Jahresreihe „Berichte zur Vertreibung nach 1945“ mit insgesamt fünf Vorträgen von Zeitzeugen oder Nachkommen der Heimatvertriebenen in Lenting.

 

Anette Jakob: Unsere Vertreibung als Schwarzmeerdeutsche

Als Zeitzeugin, also aus eigener Erinnerung berichtete Anette Jakob, geb.Ehly, geboren 1935 in Großliebenthal bei Odessa (damals Russland) über die Vertreibung ihrer Familie.
Ihr Vater wurde bereits 1938 mit vielen anderen deutschen Kolonisten als Staatsfeind nach Sibirien deportiert. Nach der Einnahme des Schwarzmeergebiets durch die deutsche Wehrmacht zog die Rest-Familie - Mutter und ihre beiden Töchter - nach Odessa. Die Niederlage der deutschen Armee bei Stalingrad 1943 führte zum Rückzug der deutschen Truppen. Das hatte zur Folge, dass auf Anordnung Hitlers die Schwarzmeerdeutschen als Bollwerk gegen den Osten nach Polen umgesiedelt wurden (vgl. Ausweis).

Quelle: A.Jakob

Anette Jakob erzählt: "Von Odessa aus fuhren wir im Viehwaggon nach Galatz (heute Rumänien), darnach mit dem Raddampfer auf der verminten Donau durchs "Eiserne Tor" nach Belgrad. Von dort ging die Fahrt mit der Eisenbahn nach Posen. Dort stieß auch meine Großmutter mit ihrem Enkel zu uns."

Als 1944 die Russen auch dort vorrückten, ging die Flucht mit dem Pferdewagen nach Frankfurt /Oder, darnach weiter mit dem Zug nach Berlin. Im März 1945 schaffte es die Familie dann nach Ingolstadt, wo ihre Verwandten lebten. Nach Anettes Heirat mit Wolfgang Jakob wurde schließlich Lenting ihre neue Heimat.

 

 

 

 

Franz Friedl: Von Schachersdorf im Sudetenland nach Lenting

Franz Friedl, geb.1944, konnte seinen Vortrag aus den Unterlagen und Berichten seiner Mutter Anna Friedl (1926 – 2021) zusammenstellen. Seine Eltern hatten einen Bauernhof in Schachersdorf in der sogenannten Iglauer Sprachinsel in Mittelböhmen.

Foto: F. Friedl

Schon im Mai 1945 mussten die Friedls ihren Hof verlassen und auf einem tschechischen  Gutshof Zwangsarbeit leisten. 1946  wurden sie dann, wie fast alle Sudetendeutschen, in Viehwaggons nach Deutschland ausgesiedelt. Sie kamen nach Rostock in der Sowjetisch Besetzten Zone. Nach der Einquartierung in Warnemünde musste der Vater dort auf der Schiffswerft arbeiten.

Vater Friedl floh aber im Januar 1947 allein nach Beilngries, wo seine Schwiegereltern gelandet waren. Die Amerikaner erlaubten dann Ende 1947 den Nachzug seiner Ehefrau und seines Sohnes (siehe Foto). Franz ging in Beilngries zur Schule, sein Vater fand Arbeit bei der Firma Ginter.

Als er Lagerleiter der Firmenfiliale in Ingolstadt wurde, kaufte er 1955 ein Einfamilienhaus in Lenting auf dem früheren Ziegeleigelände. An Silvester 1955 zog die Familie um in ihren neuen Heimatort Lenting um.

 

Michaela Gießer: Die Vertreibung meiner Familie aus Galizien und Schlesien

Die Referentin ist zwar in Lenting geboren, konnte aber aufgrund der Erzählungen ihrer Großeltern und ihrer Mutter Hildegard, Jahrg. 1928, über die Vertreibung ihrer Familie berichten. Die Großeltern Jakob und Emilie Dietz mit Tochter Hildegard lebten ursprünglich im Dorf Engelsberg in Galizien. 1940 kam es aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts zur Umsiedlung der deutschen Dorfbewohner nach Trzebinia in Schlesien (heute Polen). Der Kriegsverlauf erzwang 1945 die Flucht aus Schlesien mit Pferdewagen. Der Fluchtweg ging über Franzensbad, Marienbad nach Krems an der Donau, dann folgte ein längerer Aufenthalt in Hofkirchen in Oberösterreich. Im Herbst 1946 wurde die Familie Dietz nach Ingolstadt transportiert und im Sammellager Flandernkaserne untergebracht. Im Dezember 1946 kamen sie nach Lenting, wo sie bei verschiedenen Familien einquartiert waren.

Foto: M. Gießer

1953 heiratete Hildegard den Lentinger Michael Zeller. Dieser besorgte zusammen mit Onkel Friedrich Spieß zwei Eisenbahnwaggons, die für die Familien Dietz und Spieß zu einer Wohnbaracke am Gstocket ausgebaut werden konnten (siehe Foto). 1957 bauten sich schließlich Michaelas Großeltern und Eltern ein eigenes Haus am Lentinger Gänsberg.

 

 Karl-Heinz König:  Aus dem Egerland vertrieben

Der Vortragende Karl-Heinz König ist 1943 als Sohn von Heinz und Marianne König in Graslitz im Egerland geboren. Im April 1946 wurde er mit Mutter und Großeltern aus der Heimat vertrieben. Mit dem Eisenbahntransport landeten sie in Reichertshofen und mussten dann zu Fuß mit ihren Koffern nach Puch (Foto) zu einem Bauernhof laufen, wo sie zu viert in ein Zimmer einquartiert wurden.

Foto: KH König

1951 verschlug es die Familie König nach Ettenheim in Baden und 1952 in das benachbarte Kappel am Rhein. Ab 1958 machte Karl-Heinz in Gladbeck im Ruhrgebiet eine Lehre als Bergmann und verdiente sich im Bergbau seinen Lebensunterhalt.

Im Jahr 1966 fand er dann Arbeit bei AUDI und ließ sich deshalb endgültig in Lenting nieder.  Nach einer Lehre als Fotograf und der Weiterbildung zum Fotografenmeister eröffnete der Referent schließlich ein Fotofachgeschäft in Lenting.

 

 

Erwin Brauner: Vom Altvatergebirge zur neuen Heimat

Das Leid der Vertreibung aus Großullersdorf im Altvatergebirge in Nordmähren kennt Erwin Brauner nur aus den Erzählungen seiner Familie, denn er ist erst 1951 in Lenting geboren. Die Mutter, Jahrgang 1922, arbeitete als Schneiderin, der Vater, geboren 1923, befand sich im Studium an der Gartenbauschule Lednice-Eisengrub. Im Krieg wurde er zum Militär rekrutiert. 1947 fand er nach 2-jähriger Gefangenschaft über das Rote Kreuz seine Eltern und seine künftige Frau mit deren Eltern in Hepberg wieder, die 1946 mit einem Flüchtlingstreck nach Bayern gebracht worden waren. 

Foto: E. Brauner

Auf einem ehemaligen Schuttplatz der Ziegelei errichteten die Brauners ab 1949 in Lenting eine Gärtnerei und verkauften ihr anfangs mühsam produziertes Gemüse in einer Holzbaracke, die vordem als Bienenhaus gedient hatte (Foto). Mit viel Fleiß entwickelten sie im Lauf der Jahre daraus einen mittelständischen Betrieb mit Gewächshausanlagen und einem florierenden Gemüse- und Blumenverkauf. Der Referent führte zusammen mit seiner Frau dann in der zweiten Generation die Regionalgärtnerei Brauner.

 

 

Autoren: F. Friedl, M. Gießer, W. Baumgärtner, A. Müller